Streptomyzin

 

Die Frau rief ihren kranken Sohn:

«Steh endlich auf! Vom Rumliegen ändert sich nichts. Auf wen wartest du? Wer bringt uns was zum Fressen?»

Ihr fünfundzwanzigjähriger Sohn, tuberkulosekrank, nur Haut und Knochen, mit bleichem bläulichem Gesicht und fleckiger Haut, richtete sich in seinem schmalen Bett widerwillig auf.

Die Mutter, die ein völlig zerknittertes Rezept hin und her schwenkte, rief:

«Schreie, brülle, fluche und verwünsche sie! Sie können schließlich nicht jedem etwas geben? Deine Untätigkeit bringt dir keinen Vorteil. Du wirst sowieso sterben ... Und einsperren können sie dich auch nicht!»

Ihr Sohn zog sich die Hose über, die vor Schmutz ganz speckig war, und nahm seiner Mutter das Rezept aus der Hand. Als er das Haus verließ, wiederholte sie:

«Schimpfe sie zusammen, hab keine Furcht! Sie können dir nichts tun. Fall ihnen nur gehörig auf die Nerven!»

Vor dem Haus der Tuberkulose-Gesellschaft war heute kein Mensch zu sehen.

Er klopfte an und trat ein.

Der Angestellte verzog das Gesicht, als er den Kranken mit dem Rezept in der Hand hereinkommen sah.

«Was ist los, was willst du denn schon wieder?»

Obgleich der kranke Junge keine Hoffnung hatte, streckte er dennoch das Rezept hin:

«Medizin!»

«Was für eine Medizin, ausgerechnet zu dieser Zeit?»

«Ich sterbe, bei Gott. Ich sterbe Herr Doktor. Ich kann die ganz Nacht nicht schlafen. Wie gern würde ich sterben, aber ich kann einfach nicht.»

Er wischte sich mit dem Arm über die Augen.

Darauf der Angestellte, leise seufzend:

«Doktor oder so bin ich nicht. Die Medizin, die der Ver-waltungsrat diese Woche zugeteilt hat, ist aufgebraucht. Komm nächste Woche wieder, dann sehen wir weiter!

«Ach, Herr Doktor!»

«Ich sage dir doch, ich bin kein Doktor.»

«Gnädiger Herr, um Himmels willen.»

«Ich bin auch kein gnädiger Herr!»

«Bei Ihrer Frau, bei Ihren Kindern!»

Der Angestelite schlug mit der Hand auf den Tisch:

«Mensch, was bist du für ein uneinsichtiger Kerl! Diese Woche gibt es für keinen mehr Medizin. Die Menge, die für diese Woche vorgesehen ist, ist ausgegeben. Was glaubst du denn? Du nimmst das Mittel, und mit einem Schlag bist du die Krankheit los. Entweder rafft sie dich hin, oder ...

«Ein tröstendes Wort nur, verweigern Sie mir nicht Ihre Hilfe.»

Der Angestellte erhob sich hinter dem Tisch:

«Nein, ich habe gesagt, daß diese Woche keiner mehr etwas bekommt. Nun verschwinde, aber schnell ...»

«Und nächste Woche?»

«Das ist nicht sicher, denn es ist kein Geld mehr da. Unsere Aufgabe ist es, bei wohlhabenden und wohltätigen Mitbürgern Geld zu sammeln. Doch sie geben nichts. Sie geben einfach nichts, Sollen wir denn Gewalt anwenden!»

«Möge Gott den Staat und das Volk schützen.»

Darauf der Angestellte zornig:

«Nun aber genug!»

Die Frau, die wußte, daß der Junge mit leeren Händen zurückkehren würde, hatte ihren alten Mantel über die Schulter geworfen und erwartete ihren Sohn an der Tür:

«Faulpelz», schimpfte sie ihn, «Taugenichts».

«Was soll ich denn machen, sie haben mir nichts gegeben. Die Medizin für diese Woche ist alle!»

«Einen Dummkopf wie dich hauen sie übers Ohr, lassen sie abblitzen. Habe ich nicht gesagt, du sollst schreien und brüllen, fluchen und schimpfen und beharrlich sein?»

Sie riß ihrem Sohn das Rezept aus der Hand und ging

zur Tuberkulosc-Gesel l schaft. Sie war nicht zu alt dazu. Sie betrat die Räume der Organisation mit gespielter Wut:

«Was ist eigentlich Ihre Aufgabe? Was hat diese Gesellschaft für einen Zweck?«

Der Angestellt war solche Reden gewöhnt:

«Die Tuberkulose zu bekämpfen», sagte er.

«Warum tun Sie dann nichts gegen die Krankheit? Mein Sohn hat Tuberkulose. Warum wimmeln Sie ihn immer ab? Seit zwei Wochen kommt er her, und Sie weisen ihn ab. Wenn es wichtig ist, ob man Türke ist, nun: wir sind Türken. Oder geht es um Volk und Vaterland, nun: mein Mann hat seinerzeit auf den Feind geschossen. Er ist gefallen, und ich bin Witwe. Mir gibt niemand einen Pfennig. Mein Sohn, fünfundzwanzig, stark wie ein LÖwe, stirbt mir unter den Händen! Habt ihr dies hier eröffnet, um das Volk ruhig zu halten? Dann erschießt uns doch gleich, oder ...»

Der ausgekochte Angestellte sagte darauf:

«Hör auf mit dem Krakeel. Der Kranke, dem dieses Rezept gehört, soll kommen und sein Recht wahrnehmen!»

«Er war doch schon hier, versuch nicht auch mich übers Ohr zu hauen. Er ist zwar mein Sohn, aber er ist kein bißchen nach mir geraten.»

«War der Blonde, der vor einer Viertelstunde hier war, dein Sohn?»

«Ganz genau!»

«Dem habe ich es doch lang und breit erklart. Ich bin nur ein einfacher Schreiber ohne Titel oder Befugnis. Ich vermag nichts ohne einen Beschluß der Verwaltungskommission. »

«Was geht mich deine Dingsda an. Wenn ihr wollt, macht ihr Berge platt, und wenn ihr nicht wollt, laßt ihr einen sich auf geradem Weg verlaufen. Wenn ich heute die Medizin nicht bekomme, rühre ich mich nicht vom Fleck. Nicht ums Vaterland, nicht ums ganze Volk! Und wenn ich eine Bittschrift an den Präsidenten der Republik richten muß!»

Der Angestellte begriff, daß die Frau nicht zu denen gehörte, die man einfach los wurde, und sagte:

«Wer verbreitet denn die Schwindsucht, ich vielleicht?»

«Wenn ich den Schuldigen wüßte, der würde mir nicht entkommen, doch was kann ich schon tun?»

Der Schreiber, der zum ersten Mal einen Blick auf das Rezept auf dem Tisch warf, sah, daß dort fünfzehn Gramm Streptomyzin, Kodein etc. aufgeführt war. Er wußte keinen Ausweg mehr, als der Frau einen Zettel über fünfzehn Gramm auszustellen. Er hielt ihn ihr hin:

«Geh zur Apotheke am Eingang zum Großen Basar, zu dem hohen, grüngestrichenen Gebäude. Gib dort den Zettel ab, dann kriegst du die Medizin. Es gilt aber nur einmal. Und dann lass dich hier nicht mehr so bald blicken!»

Nachdem die Frau die fünfzehn Gramm Streptomyzin vor der Tuberkulose-Geseilschaft einem Kranken zum halben Preis verkauft hatte, wirkte sie zehn Jahre jünger. Sie konnte sich nicht fassen vor Freude und lief mit schnellen Schritten davon, leicht wie eine Feder.

Sie betrat eine Metzgerei:

«Gib mit eineinhalb Kilo Kotelett!»

«Wie Sie befehlen, gnädige Frau!»

«Nicht davon, von dem anderen Stück, ein bißchen fett.»

Sie konnte es nicht erwarten, hätte fast die Koteletts gepackt und wäre damit aus dem Laden gestürzt. Bis der Metzger das Fleisch in Scheiben geschnitten und jede mit dem Klopfer bearbeitet hatte, schienen Jahre zu vergehen.

Schließlich verließ sie, die Koteletts an die Brust ge~ prcßt, den Laden. Sie hielt sie zärtlich wie ein kleines Kind, und während sie das weiche, schwere Fleisch unter ihre linke Brust preßte, an die Stelle, wo ihr Herz freudig erregt schlug, ging sie mit sicheren Schritten weiter.

Was brauchte man nicht alles im Haus!

Die Bettbczüge waren arg abgeschabt. Und die Unterwäsche! Und ihre eigenen l laibschuhe mit den schiefen Absätzen ! Bald ist Winter, da braucht man ein Kohlebecken, einen kleinen Herd, Kohlen, einen Topf, eine Schüssel ...

«Mach dir nichts draus, mein Herz!»

Sie kaufte noch je ein Kilo Trauben, Tomaten, grüne Paprika, Auberginen und zwei Laib Brot und drückte alles zusammen mit den Koteletts voller Zärtlichkeit, Aufregung und starkem Verlangen an sich. Unterwegs begegneten ihr elegante Damen und Herren, sie sah prächtige Läden, Wohnhäuser, Luxusautos, die alle tausende oder zehntausende von Lira wert waren. Doch sie hatte kein Auge für diese Dinge. Mit den Einkäufen im Arm lief sie mit vor süßer Erregung schlagendem Herz wie berauscht weiter. Da weckte ein Schaufenster ihre Aufmerksamkeit. Glänzende Gaskocher, Gläser in allen Größen und Farben, verschiedene Wasser- und Biergläser, Likörgläschen, und dann Tassen und Tässchen. Kleine Porzellan-Kaffeetassen mit blaugeblümten Rändern, schlichte, verzierte, großbauchige und mittelgroße Tassen.

Nach den Koteletts würde eine kräftige Tasse Kaffee mit feinem Schaum und reichlich Zucker gut passen.

Sie schlüpfte in den Laden und kaufte zwei Tassen, ein Stieltöpfchen für zwei Tassen, zwei Wassergläser, eine metallene Kanne und einen kleinen Spirituskocher.

Wie schön war doch die Welt mit blauem Himmel und strahlender Sonne! Seltsam, mit einem Mal scheuerten ihr die schiefen Halbschuhe die Füße nicht mehr auf.

 

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