SCHOKOLADE
Sie waren vor
dem riesigen Schaufenster des Süssigkeitengeschäfts. Im
Schaufenster waren verschieden grosse Bonbons, Süssigkeiten in
Schachteln und Schokolade. Sie schauten zu den Schokoladen.
Rechts des dicken und runden Knaben war seine Schwester und
links die Tochter des Joghurtverkäufers. Die Tochter des
Joghurtverkäufers war etwa so alt wie die Schwester. Die
Schwester hatte gerade vorhin den dicken und runden Bruder zum
Coiffeure gebracht, mit grosser Mühe. Der Coiffeure hatte einen
grossen Spiegel, einen Käfig mit blauem Gitter, im Käfig einen
gelben Vogel.
Er war ein
Freund des Vaters. Der hauchdünne, pechschwarze Schnurrbart
oberhalb seiner Lippe lächelte ständig durch den Spiegel dem
Mädchen mit den grossen Busen des gegenüberliegenden Hauses.
Auch das Mädchen mit den grossen Busen lächelte, sie lächelten
sich gegenseitig an. Ab und zu winkten sie sich gegenseitig. Der
dicke und runde Knabe hatte es auch gesehen, als seine Haare
rasiert wurden, er hatte auch den gelben Vogel gesehen.
Fingergross, es zwitscherte ununterbrochen.
Wenn bloss die
Maschine des Coiffeurs sein Haar nicht ab und zu rupfen würde.
Das tat ihm so weh. Er wollte aufstehen und fliehen und den
Laden von draussen mit Steinen bombardieren. Desshalb mochte er
es nicht, zum Coiffeur zu gehen. Sein Stampfen und seine
Fusstritte gegen die Schwester waren desshalb. Wenn seine
Schwester nach der Rasur nicht:" Komm, lass unser Geld
zusammenmischen und uns Schokolade für einen fünfziger kaufen!"
Gesagt hätte, hätte er schon gewusst, was er machen würde.
Vor
dem Schaufenster des Süssigkeitenhändlers erloschen auch der
Coiffeure, auch seine Spiegel, auch der Käfig und der gelbe
Vogel. Schokolade gab es jetzt, nur Schokolade. In der Sonne
feurig umherschwebende rote, viollette, gelbe, blaue. Schokolade
die in rote, viollette, gelbe, blaue fest eingebunden war. Auch
die Schwester, der Knabe und die Tochter des Joghurtverkäufers
waren mitten in den feurig roten, violletten, gelben und blauen.
Oder die blauen, violletten schwebten feurig, einer nach dem
anderen in ihnen.
Die Schwester
und der Knabe kannten den Geschmack der Schokolade. Ihre Tante
hatte es ihnen einst mal mitgebracht, aus Sariyer. Ihre Tante
hatte einen schwarzen Mantel, sie hatte ein riesiges Muttermal
im Gesicht, ihre Augen waren geschminkt. Sie gab ihnen auch ab
und zu Geld. Sie brachte auch Koz Helwa (Helwa Art mit
Walnusskernen) oder auch runde Keten Helwa (in Fäden ausgezogene
Helwa Art) aus Emirgan. Ihr Vater, Benzin riechend und mit
langem Bart, der durch die Fährte langgewachsen war, hatte in
einem der regnerischen Nächte auch mal Koz Helwa mitgebracht. Ab
und zu brachte er es. Meistens war in seinem langen,
verschmutzten Bart Fluch:" Hunde Bastarde, verflixte Männer,
Scheisskerle!"
Aber Schokolade war noch süsser und leckerer als die Keten Helwa
und auch als die Koz Helwa. Kannte es denn auch die Tochter des
Joghurtverkäufers? Gleich doch, ob sie es oder nicht. In der
Tasche des kahlköpfigen Knaben waren zwanzig und in der Tasche
seiner Schwester dreissig. Wenn sie die zusammenmischten...
- Du Schwester!
Rote Haarbündel in den schmutzigen Haaren:
- Was ist?
Auch die Tochter des Joghurtverkäufers schaute hin:
- Nichts. Sagte er.
Dieses Mädchen,
diese schmutzige Tochter des Joghurtverkäufers. Wieso stand sie
noch neben ihnen? Er hatte zwanzig kurusch und seine Schwester
dreissig. Wenn sie sie zusammenzählten machte das fünfzig. Dann
konnten sie Schokolade für einen fünziger kaufen. Aber die
Tochter des Joghurtverkäufers!
Auch die
Schwester wusste, dass die Schokolade süsser und leckerer war
als die Koz Helwa und die Keten Helwa. Sie würde es ja kaufen,
teilen und weiter gehen, während sie es essen würden, doch
dieses Mädchen, dieses schmutzige Mädchen, die schmutzige
Tochter des Joghurtverkäufers. Sie hat weder Geld, noch entfernt
sie sich von ihnen. Wenn sie ihr: " Geh weg! " sagen würden,
würde sie darauf: "Wieso denn? " sagen. Wenn sie darauf hin:
"Wir wollen Schokolade kaufen." Sagen würden, würde sie:
"Na und, mir
doch egal! Sagen. Wenn sie es kaufen würden, würde sie doof zu
gucken. Wenn sie ihr auch ein bisschen geben würden, würde für
sie selber fast nichts zurück bleiben, wenn sie ihr nichts geben
würden... Ihr Vater erzählte an rasierten Morgen seines
verstaubten Bartes meistens davon erzählt, dass es eine Sünde
war, vor jemandem etwas zu essen und ihn damit zu Appetit
erwecken. Es gab ja die Hölle. In der Hölle die Teerkessel und
die Höllenwärter.
- Du Schwester!
- Was ist?
- Sind diese Schokoladen die gleichen wie die, die unsere Tante
uns mitbrachte?
- Nein .
- Die, die unsere Tante mitbringt sind süsser und leckerer,
nicht wahr?
- Natürlich.
Die Tochter des Joghurtverkäufers:
- Alle Schokoladen sind gleich!
Beide
auf einmal:
- Woher weisst du das denn?
- Woher wisst ihr es?
- Unsere Tante hat es uns mitgebracht, aus Sariyer.
- Mir auch.
- Hast du denn eine Tante?
- Habt ihr denn eine?
- Ja.
- Ich auch.
- Jedesmal wenn sie zu uns kommt bringt sie es uns mit!
- Mir auch.
- Unsere bringt uns auch Keten Helwa und auch Koz Helwa.
- Mir auch.
- Woher bringt sie es dir?
- Woher bringt sie eure Tante?
- Sag doch du woher es deine bringt!
- Wieso sollte ich denn?
- Wieso sollten wir es dann? Unser Vater ist Lastwagen Führer,
er durchreisst die Welt!
- Und mein Vater ist Joghurtverkäufer. Er verkauft sogar denen,
die in den Hochhäusern wohnen Joghurt!
Der Knabe wandte sich knallrot zu seiner Schwster:
- Du Schwester!
- Was ist!
- Wenn ihre Tante ihr Schokolade mitbringt soll sie doch gehen
und essen!
Die Tochet des Joghurtverkäufers sagte:
- Ich werde nicht gehen.
Die rote Haarschleife der Schwester verblasste:
- Wieso?
- Wieso geht ihr nicht?
- Was schaust du zu uns?
- Was schaut ihr denn zu mir?
- Wir können bis zum abend warten!
- Ich auch.
- Gehört dieser Platz dir?
- Gehört er euch?
Die Schwester sagte zum Bruder:
- Sei still, wir sind nicht so wie sie!
- Eigentlich bin ich nicht wie ihr.
- Wie?
- Euch doch egal!
Der Bruder sagte:
- Sag es doch wenn du Mut hast!
- Hab ich auch. Hab ich auch.
- Dann sag es doch!
- Meint ihr ich habe Angst vor euch?
- Meinst du wir haben Angst vor dir?
Auf dem schlechten Plaster der Strasse ging ein blauer De Soto
blitzblank hindurch.
- Du Schwester!
- Was ist?
- Unser Vater kann sogar diesen blauen Wagen führen,
nicht wahr?
- Natürlich kann er das!
Die Tochter des
Joghurtverkäufers hörte das, doch sie verstand es nicht. Sie
hatte gar keine Tante, doch sie wollte, dass sie eine hätte.
Wenn sie eine hätte, und wenn die ihr aus Sariyer Schokolade und
Koz Helwa, aus Emirgan Keten Helwa mitbringen würde. Oder, wäre
ihr Vater doch Chauffeur...Dann noch, Schokolade, war es wohl
sehr lecker?
- Du Schwester!
- Was ist?
- Wenn wir es wollten, könnten wir Schokolade...
- Sei still!
- Kaufen, nicht wahr?
- Ich habe dir doch gesagt, dass du still sein sollst!
- Aber wir können es nicht kaufen, ich weiss. In der
- Hölle gibt es Teerkessel.
- Du Bursche, habe ich dir nicht gesagt, dass du still sein
sollst!
Die Tochter des
Joghurtverkäufers lachte. Die Haarschleife der Schwester wurde
wieder blass!
- Wieso hast du gelacht?
- Was geht dich das an?
- Sag es doch wen du Mut dazu hast! Sagte der Bruder
- Meinst du ich habe Angst vor dir? Wo hast du denn die
- Hölle gesehen?
- Wo hast du sie gesehen?
- Hab ich doch gar nicht.
- Wir haben sie auch nicht gesehen.
- Woher weisst du dann die Teerkessel?
Die Schwester
schaute zu ihrem Bruder und der Bruder schaute zu seine
Schwester. Die Schwester:
- Mein Vater- sagte sie-kann er es nicht wissen?
- Kann er doch. Aber ihr wisst es eben nicht!
- Du Schwester!
- Was ist?
- Lass uns der doch zeigen, dass wir, wenn wir es wollten
Schokolade kaufen könnten!
Die Tochter des Joghurtverkäufers forderte sie mit ihren
Blechohrringen heraus:
- Zeigt es doch!
- Schwester, sollen wir?
- Ach was, Schwester sollen wir? Als ob sie Geld hätten...
- Haben wir nicht?
- Habt ihr?
- Schauuu!
Sie verzog abweisend den Mund.
- Mein Vater gibt mir noch mehr...
Die Schwester zeigte auch das ihre. Die Tochter des
Joghurtverkäufers verzog wieder abweisend den Mund.
- Er gibt mir noch mehr als euch beide und ich weiss nicht wofür
ich es ausgeben soll!
Die Schwester war dem Weinen nahe:
- Dann kauf doch eine Schokolade für einen fünfziger!
- Würde ich doch, wenn ich es wollte. Aber ich will nicht.
- Wir kaufen es aber. Sagte der Knabe.
- Klar, dann kauft doch!
- Können wir es nicht?
- So kauft es doch!
Der Knabe sagte:
- Du blöde Gans!
' Die blöde Gans ' wurde knallrot.
- Eine Blöde Gans sieht so aus wie ihr!
In das Gesicht der Schwester mischte sich das Rot ihrer
Haarschleife:
- Lass mich aus dem Spiel!
- Wieso hat dann dein Bruder mich reingemischt?
- Komm lass es, unsere Erziehung erlaubt es uns nicht, uns mit
solchen wie du zu zanken!
- Meine Erziehung erlaubt es mir eigentlich nicht.
- Sei still, sei still...
- Wir haben doch Geld, nicht wahr Schwester. Wieso sollten wir
denn still sein?
Sie gingen in
den Laden hinein. Die Tochter des Joghurtverkäufers blieb
zurück. Ihr schmutziges Haar ganz ausgefasert. Sie hatte
niemanden anders als als ihre vier Schwestern und ihren Vater,
der ein Trunkbold war. Ihre Schestern mischten sich in die
Morgen, in denen die Tabakfabrik laut ertönte. Sie kamen mit
leeren Händen zurück. Als ihre Mutter noch am Leben war, kam sie
mit Päckchen, in denen Trauben, Feigen, Weisskäse und Oliven
waren zurück. Sie kochte, wusch Kleider bis zur Mitternacht,
setzte ihre Mädchen vor sich, kämmte ihnen das Haar und band
ihnen Haarschleifen die aus Fetzen stammten ins Haar. Als ihre
Mutter noch am Leben war, arbeiteten ihre Schwestern nicht in
der Fabrik. Sie spielten Himmel und Hölle, Ball und hüpften
Springseil. Sogar ihr Vater trank damals nicht so viel.
Sie kamen mit einer fünfziger Schokolade mit rotem Papier aus
dem Laden. Zuerst wurde der Rote Umschlag entfernt, danach der
silberne, danach wurde die Schokolade geteilt und zu essen
begonnen.
War es wohl
sehr lecker? Doch sie sagte trotzdem:
- Das würde ich nicht einmal essen, wenn sie es mir gratis geben
würden.
Haben sie es
wohl gehört? Wenn sie gehört haben, was haben sie gesagt? Sie
schloss die Augen, damit sie nicht verstanden, dass sie sah wie
sie es assen und Lust darauf hatte. In ihren geschlossenen
Augen, die Schokolade die von ihrem Papier entfernt und gegessen
wird. Sie öffnete die Augen, das Schaufenster. Im Schaufenster
Schokoladen mit rot, grün, viollett, gelb und rosaroten
Papieren. Sie schloss ihre Augen, ein Bruder, der zum Coiffeur
gebracht, gemeinsam Schokolade gekauft und geteilt wurde, ein
Vater, der sogar den blauen Wagen lenken kann. Schokolade aus
Sariyer. Eine Tante, die aus Emirgan Keten- und Kozhelwa bringt.
Sie öffnete die Augen, die anderen gingen nebeneinander. Sie
schloss ihre Augen, öffnete sie, schloss sie. Als sie sie zum
letzten mal öffnete, sah sie, dass sie an der Ecke der
gegenüberliegenden Strasse waren. Sie schloss die Augen, öffnete
sie. Sie waren nicht mehr da. Die Strasse hatte beide
geschluckt. Sie wollte gerade gehen, der Strassenpflaster, der
Rand des Strassenpflasters, am Rande des Strassenpflasters ein
rot funkelndes, zerrissenes Schokoladen Papier, es war ein
munziges Ball, das zerknütternde, silberne Papier. Sie schaute
sich argwöhnisch um. Sie hatte Angst, dass sie gesehen und als
'Zigeunerin' benannt werden konnte.
Ein Kringel
Verkäufer ging durch.
Zu den Häusern,
zu den Fenstern der Häuser schaute sie. Tüll Vorhänge an den
Fenstern.
Sie beugte sich
und nahm den Ball aus silbernem Papier.
Ein neuer Kringel Verkäufer.
Als ob es ein
Ball wäre warf sie den zerknütterten Ball in die Luft und fing
es, fing es und warf es in die Luft. Während sie es hochwarf
eine Strasse, noch eine Strasse, danach wieder eine andere
Strasse. Die Strasse war teilweise schmutzig. Diese Strasse
riechte nach Piesse. Sie öffnete den Ball aus Papier, leckte und
leckte die Schokoladenreste.
Orhan KEMAL
|