ASIAN  AND AFRICAN  STUDIES XI, 1975

DIE THEMATISCHEN UND KOMPOSITIONELLEN MERKMALE DER LETZTEN ERZÄHLUNGEN

ORHAN KEMALS

XENIA CELNAROVÄ, Bratislava

 

Orhan Kemal (1914—1970) gehört zu den führenden Darstellern der türkischen Nachkriegsprosa. Das Genre der Erzählungen bildet einen bedeutenden Bestandteil seines Schaffens. Die Analyse der letzten Sammlung seiner Erzählungen lenkt ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Art der Charakterisierung der Gestalten und auf die damit zusammenhängende Funktion des Erzählers in den einzelnen Erzählungen.

Seine erste Sammlung von Erzählungen gab Orhan Kemal unter dem Titel Ekmek Kavgasi (Der Kampf ums Brot, 1949) heraus. Dieser kennzeichnende Titel des Erstlingswerkes des 25 jährigen Autors wurde sozusagen zur Idee und zur thematischen Richtlinie seines ganzen künftigen Schaffens. So erscheint als Gesetzmässigkeit auch die Tatsache, dass das Wort „Brot" im Titel der letzten Erzählungssammlung des Autors Önce Ekmek (Brot zuerst, 1968) ebenfalls erscheint. Das Brot, die einfachen Leute in ihrer Jagd nach dem Brot, der Lebenskampf des kleinen Mannes, dieses Thema dominiert im Schaffen Orhan Kemals.[i]

Das Buch Brot zuerst erschien zwei Jahre vor dem Tode seines Verfassers. Der Schriftsteller schloss damit sein erzählerisches Schaffen ab, das zu Beginn der 40-er Jahre erfolgreich begonnen hat und gegen die Mitte der 50-er Jahre gipfelte.

Die Tatsache, dass Orhan Kemal sich in der türkischen Literatur gerade durch Erzählungen einen Namen geschaffen hat, ist auf die grosse Beliebtheit dieses Genres in der Türkei der 40-er Jahre zurückzuführen. Das Schaffen Sait Faik Abasi-yamks (1906—1954), der als ein Meister der türkischen modernen Erzählung gilt, wurde mit einem ausserordentlichen Interesse der türkischen kulturellen Öffentlichkeit empfangen und übte einen grossen Einfluss auf die weitere Entwicklung des erzählerischen Schaffens aus. Zur Beliebtheit dieser Gattung bei den jungen Schriftstellern trug ohne Zweifel auch die Behendigkeit bei, mit der die Tagespresse sowie die Zeitschriften kurze prosaische Gebilde beginnender Autoren veröffentlichten.

Dank der Presse ist Orhan Kemal in das Bewusstsein der Leser bedeutend früher

eingetreten, als seine Werke in Buchform zu erscheinen begannen. Ein Beweis dafür ist auch der erste Platz, den er in der Leserumfrage des Verlages Varlik im Jahre 1948 einnahm. Nach einigen Erzählungen die in der Zeitung Ikdam und in den Zeitschriften Yürüyüs und Yurd ve Dünya veröffentlicht wurden, publiziert Orhan Kemal seit 1945 im Presseorgan des Verlags Varlik, im gleichnamigen Literaturblatt, das monatlich erschien.

Viele der elf Erzählungssammlungen Orhan Kemals erreichten eine mehrfache Herausgabe. Für die Erzählungen der Sammlung Kardes Payi {Brüderlicher Teil, 1957) erhielt der Schriftsteller im Jahre 1958 den Sait-Faik-Preis — Sait Faik Hikäye Armaganý — und für die letzte Sammlung Brot zuerst im Jahre 1969 den Sait-Faik-Preis und den Preis der Türkischen Gesellschaft für Sprachwissenschaft — Türk Dil Kurumu Hikäye Ödülü.[ii]

Die Form von Orhan Kemals Erzählungen trug zu deren Erfolg wesentlich bei. Kurze, geschlossene Gebilde, lakonisch und sparsam in ihrer Aussage wobei der Autor im Hintergrund bleibt und nur seine Gestalten reden lässt, dies wurde charakteristisch für das Schaffen junger Autoren, die während des 2. Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zu publizieren anfingen. Vor allem jedoch waren es die Themen, welche der Autor für seine Erzählungen wählte, die dem Leser so nah waren.

In der ersten Hälfte der 40-er Jahre als nach einem vorübergehenden Stillstand der Strom des kritischen Eealismus in der türkischen Literatur wieder an Kraft gewinnt, wendet sich die junge, engagierte Schriftstellergeneration kritisch gegen die verschiedenen negativen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. Während die Mehrzahl der Schriftsteller ihre Aufmerksamkeit der Provinz widmet und in ihren Werken das unvorstellbar schwere Leben des türkischen Bauern darstellt, findet Orhan Kemal das Objekt seines Interesses in den Armenvierteln von Istanbul und Adana, in den Fabriken und Gefängnissen, in einem Milieu, wo er seine ersten Lebenserfahrungen sammelte und welches ihm intim vertraut war. Im Sinne des Hegeischen Prinzipes der Übereinstimmung der künstlerischen Darstellung mit der Wirklichkeit erfasst der Autor die wesentlichen Erscheinungen der objektiven Realität, die ihn umgibt. Die Einschätzung dieser, meist negativer Erscheinungen, so wie sie in des Autors Stellungnahme auftritt, ist geradlinig und kompromisslos. Das Urteil ist kurz, unvoreingenommen, aber umso erbarmungsloser.

„Die hauptsächliche Aufmerksamkeit lenkt der Schriftsteller auf das objektive, nach Aussen hin unvoreingenommene Erzählen, in dem des Schriftstellers Mitleid mit dem Schicksal der ,kleinen Leute' zu ergreifen ist. Orhan Kemal weicht den Grauen des Lebens armer Leute nicht aus. In seinen Erzählungen werden oft erschütternde, wirklich tragische Geschehnisse geschildert. Die eigentliche Grundlage der Lebenserscheinungen enthüllt sich bei ihm nicht so sehr im Dramatischen dieser oder jener Begebenheit, als vielmehr in den Umständen, als deren unvermeidliche Folge sie erscheint. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Autors steht nicht die Begebenheit selbst, sondern die Umstände, von denen sie hervorgerufen wurde."[iii] Mit diesen Worten beurteilt A. Babajev das Frühwerk Orhan Kemals und hebt weiter hervor, dass gerade die Fähigkeit die Wirklichkeit in ihrem alltäglichen grausamen Fluss darzustellen, im Tragismus ihres grauen Alltags, dies unterscheidet Orhan Kemal von seinen Vorgängern.

Das Thema, das von dem beginnenden Autor mit einem solch empfindlichen Zutritt erfasst wurde, behielt seine vorherrschende Position auch im Schaffen des reifen, um viele Lebens- und literarischen Erfahrungen reicheren Schriftstellers. Die Erzählungen der letzten Sammlung Orhan Kemals Brot zuerst sind „den kleinen Leuten der grossen Stadt",[iv] ihrem alltäglichen Leben gewidmet. Diese Leute — Kinder, kleine Beamte, Tagediebe, Bürger — sind die Träger des Hauptgewichtes der Erzählungen. Die Begebenheit, die Handlung sind hier zweitrangig, in den Vorderplan tritt die Gestalt. Die Handlung, falls überhaupt eine verläuft, dient lediglich zur Ergänzung ihrer Charaktere.

Den Plan der Gestalten verfolgend ist es sehr wichtig sich der Rolle des Erzählers in den einzelnen Erzählungen gewahr zu werden. Die Haltung, die der Erzähler im Werk einnimmt, bestimmt die Charakterisierungsart der Gestalten. In der Sammlung Brot zuerst wählt der Autor mehrere Arten von Autorenperspektive. Er identifiziert sich mit einer der handelnden Gestalten, als Erzähler in Ich-Form steht er im Mittelpunkt des Geschehens, was ihm die Möglichkeit gibt eigenen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, während sich der Leser bei den übrigen Gestalten mit einer äusseren Charakterisierung und damit zufrieden geben muss, was die Gestalten in Dialogen oder Monologen selbst aus ihrem Inneren zum Ausdruck bringen. Ein anderes Mal stellt er sich über das Vorkommnis und dringt als allwissender Erzähler in die heimlichsten Winkel des Bewusstseins seiner Gestalten ein, wobei er es dem Leser ermöglicht all deren inneres sowie äusseres Geschehen zu verfolgen. Jener Typ der Erzählungen, in welchen der Autor die Gestalten von Aussen her betrachtet als unvoreingenommener Zeuge, der nur ihre äusseren Merkmale und Dialoge festhält und so deren Charakter enthüllt, dieser Typ — so häufig im Schaffen des Autors vertreten — fehlt in dieser Sammlung von Erzählungen. Andererseits wählt der Autor öfter eine solche Einstellung des Erzählers, durch die er sich mit der Hauptgestalt vereint. Die Wirklichkeit, das Geschehen um ihn nimmt er sozusagen mit deren Augen auf.

Als aktiver Bestandteil, als Bewegkraft der Handlung äussert sich der Erzähler in der ersten Person in der Erzählung Sag Ic (Der rechte Läufer). In der Exposition der

Erzählung stellt das Motiv des plötzlichen Entschlusses einen Jugendfreund aufzusuchen ein dynamisches Motiv dar — es ruft eine Kette von Erinnerungen hervor, in denen der Erzähler retrospektiv in seine Kinder jähre zurückkehrt und so seine Verschiebung der Zeitebenen von der unmittelbaren Vergangenheit, d. h. von einer Zeit in der der Erzähler auf den Gedanken verfiel, in der er ihn verwirklichte und ihn auch übermittelte, man kann also sagen vom, Zeitpunkt des Erzählers, in die ferne Vergangenheit. Durch die Verwirklichung des Entschlusses des Erzählers, gewinnt das Dynamische des Motivs der Entschlussfassung an Intensität.

Der Schwerpunkt der Erzählung liegt in der Feststellung, zu der der Erzähler nach der Verwirklichung des Entschlusses gelangt. Der Generationszwist zwischen Eltern und Kindern, der seinem Freund Süreyya in der Kindheit so viel Leiden verursacht hat, dauert bei dem erwachsenen Süreyya und dessen Sohn mit unverminderter Heftigkeit an.

Der Unterschied in der Beziehung Süreyyas zum Erzähler im ersten und zweiten Teil der Erzählung äussert sich in der Art wie Süreyya charakterisiert wird. Mit dem Knaben Süreyya verbindet den Erzähler eine intime Freundschaft, Süreyya vertraut ihm seine heimlichsten Gedanken an. Der Erzähler weiss von ihm praktisch alles, er hat kein Bedürfnis die Charakteristik Süreyyas durch die Beschreibung seines Ausseren zu ergänzen. Im zweiten Teil der Erzählung vertritt das Hervorheben von äusseren Merkmalen den Unwillen der Gestalt sich im Gespräch zu äussern.

Trotz der Verlegung der Handlung nach Istanbul statt Adana, wo der Autor einen Teil seiner Kindheit verbracht hat, geben einige Motive die mit denen der Novelle Babaevi (Das väterliche Haus)[v] identisch oder ähnlich sind, der Erzählung Der reckte Läufer einen autobiographischen Charakter. Es sind dies die Motive der Fussball-Wettkämpfe, der Träumereien von einer Fussballspielerlaufbahn. In beiden Fällen ist des Erzählers Vater ein Rechtsanwalt. Einer der Freunde des Erzählers in Das väterliche Haus heisst auch Süreyya. Eine Ähnlichkeit ist auch im Motiv der Rückkehr des Erzählers, nur ist die Zeitspanne zwischen dem Weggehen und der Rückkehr des Erzählers in der Novelle Das väterliche Haus wesentlich kürzer. In Das väterliche Haus findet der Erzähler nach der Rückkehr seine Freunde nicht auf, im Rechten Läufer findet das Wiedersehen mit Süreyya statt.

In der Erzählung Elli Kurus (Fünfzig Kurusch) ist der Erzähler in erster Person lediglich ein Ubermittler des Erzählens der Hauptgestalt, das er von Zeit zu Zeit mit Fragen unterbricht. Die Aktivierung des Erzählers beginnt in dem Moment, da er dem Helden der Handlung eine Anleihe anbietet. Die Anleihe, zuerst als Geschenk aufgefasst und als solches schroff abgelehnt, ermöglicht dem Autor auch andere Charakterzüge der Gestalt hervorzuheben als die, welche bereits aus dem Gespräch des Helden mit dem Erzähler hervorgingen und sie motiviert gleichzeitig auch die Gipfelung der Handlung. Trotz der Bemühung des Autors um eine knappe Ausdrucksweise hat die Erzählung einen etwas melodramatischen Ausklang. Der Held, ein kleiner Kolporteur begleicht seine Schulden mit Zeitungen, die er allmor-gentlich dem Erzähler bringt. Es bleiben nur noch fünfzig Kurusch übrig, die er zurückzuzahlen hat, aber eines Morgens erscheint er nicht mehr. Nach einer gewissen Zeit, als ihn der Erzähler schon beinahe vergessen hatte, kommt sein Bruder um die Schulden zu begleichen:

„Mein Bruder bittet Sie um Verzeihung, Onkel!" „Was denn?"

„Er ist Ihnen doch noch fünfzig Kurusch schuldig geblieben..." „Und wo ist er denn?"

Er weinte nicht, noch schluchzte er.

„Er ist gestorben", sagte er mit einer Stimme wie Stein. „Gestern haben wir ihn in Edirnekapi beerdigt..."

Er streckte seine Hand mit fünfzig Kurusch aus. Dann ging er: „Zeitungen, Sensationen!"[vi]

Das Streben Bildung zu erreichen und seinen Mitbürgern zu helfen, das zu den charakteristischen Zügen des Helden der Erzählung Fünfzig Kurusch gehört, ist der Beweggrund der Erzählungen Önce Ekmek (Brot zuerst) und Incir Qekirdegi (Das Feigenkörnchen). Während dem Kolporteur aus der Erzählung Fünfzig Kurusch der Tod die Erreichung seines Zieles verhindert, muss Ayten, die Heldin der Erzählung Brot zuerst ihre Pläne dem egoistischen Vater zuliebe aufgeben. Dem Sohn des Eisverkäufers aus Das Feigenkörnchen indessen gelingt es offensichtlich den Traum seiner Eltern zu erfüllen und er wird Arzt, wenn auch nicht jener wundertätige, alles heilende, als welchen sie ihn in ihren Vorstellungen gesehen hatten:

„Auch ihr Mann, auch sie priesen des Sohnes Doktortum, so als sollte des Eisverkäufers Sohn, wenn er Arzt sein wird, ein Prophet werden, der den Blinden, Lahmen, Gelähmten, Schmerzleidenden dieses Viertels Gesundheit ausstreuen könnte. Des Eisverkäufers Sohn wird bald Arzt werden. Dies ist sein letztes Jahr. Er wird hierher kommen, eine Praxis eröffnen. Zuerst wird er Vaters Schmerzen lindern, dann auch Mutters Augen helfen, und später, dann mögen auch die blinden, kranken, schmerzleidenden Nachbarn kommen."[vii]

Ein weiterer charakteristischer Zug des Helden von Fünfzig Kurusch ist ein hoher Grad moralischen Stolzes, der ihn mit der Titelgestalt der Erzählung Tarzan verwandt macht. Beide lehnen die Hilfe, die für sie von existenzionell ungemeiner Notwendigkeit ist, ab, da der zu leistende Gegenwert ihren moralischen Grundsätzen widerspricht.

Klagt Enver Naci Göksen im Jahre 1957 über einen Mangel an Werken mit Kinderthematik in der türkischen Literatur,[viii] so füllt Orhan Kemal diese Lücke wenigstens teilweise aus. Orhan Kemal war kein Verfasser von Literatur für Kinder, aber „wie in den wirkungsvollsten Passagen seiner Romane, so auch in seinen Erzählungen bot er die brennendsten Beispiele der Probleme von Kindern und Kinderhelden dar, er lernte es, diese mit ängstlicher Aufmerksamkeit wachsam zu verfolgen", schreibt der bekannte türkische Literaturkritiker Rauf Mutluay.[ix] In dem Artikel, der den Kinderhelden in Orhan Kemals Erzählungen gewidmet ist, stellt er fest, dass der Verfasser ein Drittel seiner Sujets dem Leben der Kinder entlehnt.[x]

Die Gestalten der Kinder sind bei Orhan Kemal den erwachsenen Helden gleichgestellt, sie leben ihr eigenes Leben. Meist sind es Kinder der armen Vorstädte,, die seit ihrer frühesten Kindheit gezwungen sind sich um ihr Dasein zu kümmern. Wenigstens in ihren Vorstellungen entfliehen sie der rauhen Wirklichkeit in die Welt der Phantasie, sie identifizieren sich mit ihren beliebten Helden der Filmleinwand Bir Cocuk (Ein Kind) oder der Comics (Tarzan).

Von den Erzählungen der Sammlung Brot zuerst, in denen der Erzähler als Allwissender auftritt, verdient die Erzählung Mavi Tash Küpe (Der Ohrring mit dem blauen Stein) besondere Aufmerksamkeit. Die Gestalt der gleich im ersten Satz eingeführten Frau wird vom Erzähler anfangs unparteiisch beobachtet, ihre Bewegungen und Gesten festgehalten, wobei er deren männliche Rauheit hervorhebt. Anschliessend identifiziert er sich mit der Heldin und die zweite Gestalt, Biläl, nehmen wir sozusagen mit ihren Augen auf. Der Satz „Oft war er so in seine Gedanken vertieft, in diese schwarzen, unendlichen, tiefen"[xi] ertönt wie ein innerer Seufzer der Frau.

Der Erzähler löst sich von den Gedanken der Gestalt, um wieder als unparteiischer Beobachter das Kaffeehaus betreten und an einer Szene teilnehmen zu können, die hier noch vor der Ankunft der Heldin stattgefunden hatte. In dem Augenblick als die Frau—Fuhrmännin in das Kaffeehaus kommt, sehen wir ihr Äusseres so,. wie es die Kaffeehausbesucher sehen, der Erzähler gibt deren Gedanken wieder:

„Für die Besucher des Handwerkerkaffeehauses war eine Frau Frau, ein Mann

Mann. Eine Frau hat nicht Fuhrmann werden sollen. Eine Frau sollte nicht arbeiten. Wozu steckt sie die Nase in Dinge, von denen sie nichts versteht?

Wer hat das je gesehen, dass Frauen die Plätze von Männern einnahmen, die

Familienväter ohne Arbeit liessen?"[xii]

Das Gespräch der Fuhrmännin, deren männliche Züge dauernd unterstrichen werden, mit dem Kaffeehausinhaber, wird plötzlich von einer Erinnerung an ihren Mann unterbrochen, einer Erinnerung, die durch einen zufällig ausgesprochenen Satz hervorgerufen wurde. Retrospektiv verschiebt diese Erinnerung die Handlung, der Erzähler macht den Leser mit dem Schicksal der Heldin von ihren Mädchenjahren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannt. Das Leben bei ihren Eltern, die Heirat, die unglückliche Ehe, die Liebe zum Lehrling ihres Mannes, der tragische Höhepunkt ihrer Ehe, die Jahre im Kerker verbracht und die Rückkehr ins Leben, ein Schicksal voll Dramatismus, das für einen grossen Roman hätte Stoff genug liefern können, fasst der Autor in ein sparsam dargebotenes Kurzgebilde zusammen. Um all das, was die Heldin nach der Ermordung ihres Mannes erlebte, ihre Festnahme und den Aufenthalt im Gefängnis zu schildern benötigte Orhan Kemal lediglich 9 Wörter:

„Nachher folgten Staub, Rauch, Teilnahmslosigkeit im Halbdunkel der Gefäng^ niszelle."[xiii]

Auf diese Weise erreichte der Autor, dass die Begebenheiten an Dramatischem verlieren und lediglich zu einer Ergänzung der Charakteristik der Hauptgestalt der Erzählung werden. Nirgends spricht es der Erzähler aus, es ist jedoch zu schliessen, dass die so oft betonte Rauheit der Fuhrmännin gerade im Milieu des Gefängnisses, ihren Ursprung nimmt.

Den Kern der Erzählung bildet die Beziehung der Heldin zu ihrem Gehilfen BiläL Der Autor selbst kommentiert diese Beziehung nirgends, er hält lediglich ihr Benehmen Biläl gegenüber fest und verfolgt dessen Gedankengang.

Aus Biläls innerem Monolog erkennen wir in welch abhängiger Stellung er sich der Fuhrmännin gegenüber befindet, die Furcht, die er vor ihr verspürt.

Betrachten wir, wie der Autor in dieser Erzählung mit der Zeit disponiert. Von der Hauptzeitachse, auf der sich die Handlung zu entwickeln beginnt und auf der sie auch endet, gibt es einige Abweichungen:

1.  Der Erzähler bringt die Handlung zu einem Zeitpunkt vor dem Eintreten der Frau ins Kaffeehaus zurück — hier geht es um eine geringe Zeitverschiebung;

2. Zu einer Zeitverschiebung um einige Jahre zurück kommt es in dem Augenblick, in dem sich die Frau ihres Mannes erinnert. Die Handlung geht voran, bis sie durch eine weitere Retrospektive zu dem Zeitpunkt zurückgerückt wird, in dem die Heldin 13 Jahre alt war;

3.  In Biläls Gedanken schlingen sich Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft ineinander. In seinen Erinnerungen kehrt er zurück zu seinen Begegnungen mit Hayriye, dem Mädchen mit dem Ohrring mit dem blauen Stein, er denkt über seine abhängige Lage nach und stellt sich die Augenblicke vor, die er mit seiner Lieben verbringen wird, sollte es ihm einmal gelingen sich vom Joch der Fuhrmännin zu befreien.

Auf diese Erzählung, sowie auf das gesamte Schaffen Orhan Kemals überhaupt können Erich Auerbachs, die moderne Prosa betreffenden Worte angewandt werden: „...den grossen äusseren Wendepunkten und Schicksalsschlägen wird weniger Bedeutung zugemessen, es wird ihnen weniger Fähigkeit zugetraut, Entscheidendes über den Gegenstand herzugeben; hingegen besteht das Vertrauen, dass in dem beliebig Herausgegriffenen des Lebensverlaufs, jederzeit, der Gesamtbestand des Geschicks enthalten sei und darstellbar gemacht werden könne; man hat mehr Vertrauen zu Synthesen, die durch Ausschöpfung eines alltäglichen Vorgangs gewonnen werden, als zur chronologisch geordneten Gesamtbehandlung, die den Gegenstand von Anfang bis zu Ende verfolgt, nicht äusserlich Wesentliches auszulassen bestrebt ist und die grossen Schicksalswendungen gleich Gelenken des Geschehens scharf heraushebt."[xiv]

In der Erzählung Pazartesi (Montag) tritt der Erzähler auch als Allwissender auf, den zwei Gestalten der Handlung wird jedoch die Möglichkeit belassen sich in Dialogen und inneren Monologen zu äussern, so dass der Erzähler, im Hintergrund stehend, mit seinem Kommentar ihre Erwiderungen lediglich ergänzt.[xv] Dieses Bestreben des Autors um ein selbständiges Ausdrücken der Charaktere betonen A. Babajev und S. Uturgauri bereits in der Bewertung des früheren erzählerischen Schaffens Orhan Kemals.[xvi]

Die Erzählung ist auf dem gegenseitigen Widerspruch beider handelnden Gestalten aufgebaut. Ihre Widersprüchlichkeit ist einerseits von ihrer dienstlichen Beziehung — dem Arbeitsgeber steht hier sein Angestellter gegenüber — andererseits von ihrem mentalen und intellektuellen Niveau her bedingt.

Der Inhaber des Verlages gleicht seine schlechte Laune aus, indem er seinen Untergeordneten, einen demütigen, niemals widersprechenden Buchhalter erniedrigt, er freut sich dessen menschliche Würde in den Staub treten zu können, in seiner Beschränktheit berauscht ihn das Wissen um seine Macht über Menschen, die ihn durch ihre Bildung überragen.

„Jener Buchhalter schloss mindestens das Lyzeum ab. Er selbst? Die vierte Klasse Volksschule. Er verheimlichte es zwar, als schäme er sich dessen, aber wieder verspürte er diese WTunde in seinem Inneren. Ja, ja, komme von der vierten Klasse Volksschule, stelle vor dich solche hin, die das Lyzeum beendet hatten, zwinge sie das Weisse Schwarz zu nennen, das Schwarze Weiss und dann wieder das Weisse Schwarz. Willst du es, kannst du sie sogar zwingen das Schöne als hässlich zu bezeichnen, das Hässliche schön."[xvii]

Die Titelgestalt der Erzählung Coni (Dschony) leidet ebenfalls unter der Bück-sichtslosigkeit seines Arbeitsgebers, hier bleibt jedoch der Konflikt Arbeitsgeber — Angestellter im Hintergrund, während in den Vordergrund Dschonys Konflikt mit sich selbst tritt, ein Konflikt, der im Minderwärtigkeitskomplex wurzelt.

„Wenn er sein Haar mit Brilantine einrieb und es vor dem Spiegel glattstrich,

wurde sein Gesicht lang. Als würde er sich selbst die Frage stellen: ,Hat überhaupt

jemand mit so einer riesigen, buckligen, formlosen Nase das Recht sich vor einen

Spiegel zu stellen und sein Haar zu kämmen?' Gewiss nicht, so schien es ihm."[xviii]

Ein Blick in den Spiegel ruft bei Dschony einen Strom von Überlegungen und

Erinnerungen wach, in denen sich uns ein Mensch ohne jegliches Selbstbewusstsein,

scheu, verschlossen, auftut. So wie der Held der vorherigen Erzählung Montag,

ist auch er eines offenen Protestes nicht fähig.

In dieser Erzählung ist das Eingreifen des Erzählers in die Handlung ebenfalls nur geringfügig. In wenigen Worten führt er die Gestalt ein, um sich anschliessend diskret zu entfernen, wobei er es der Gestalt überlässt sich in direkten und indirekten Monologen selbst zu enthüllen.

In der Erzählung Sezay Bey steht der Erzähler wieder im Hintergrund, wortführend ist der Titelheld, mit seinen Augen verfolgen wir die Situation. Dies ermöglicht uns den Kontrast zwischen der kleinen, beschränkten Welt Sezay Beys und all dem Übrigen was ihn umgibt aufzudecken. Höchst selbstzufrieden, zufrieden mit der tüchtigen Art mit der er sich ein sorgloses Leben zu sichern vermochte, in seinem falschen Selbstbewusstsein unterstützt von seiner Frau, der er mit dem Dienstmädchen untreu ist, so blickt dieser typische Kleinbürger geringschätzig, gereizt, mit einem Gefühl von Überordnung auf all die Leute herab, die sich ihr Leben nicht so einrichten konnten wie er. Das Selbstbewusstsein dieses kleinen Hausdespoten platzt sehr schnell, wenn er in einen Konflikt gerät mit jemandem, der sich von seiner Pose der unantastbaren Persönlichkeit nicht einschüchtern lässt. Deshalb verlässt er so ungern seinen begrenzten, bequemen Lebensraum, damit seine Armseligkeit und Hilflosigkeit nicht zutage kommt.

Die innere Charakteristik der Gestalt wird in überzeugender Weise von den äusseren Charaktermerkmalen ergänzt: die Gesten, Bewegungen, manche Einzelheiten seines Äusseren. Charakteristisch ist sein stetes unbegründetes Hüsteln, als wollte er dadurch die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich ziehen.

„Er hustete laut. — Er räusperte sich leicht, ohne dazu jedweden Grund zu

haben. — Wieder hustete er ohne irgendwelchen Grund."[xix]

Die Erzählung Iki Bucuk (Zweieinhalb) ist auf den Gefühlen einer Person aufgebaut. Das Erzählen in dritter Person ist im Grunde genommen von Anfang an bis zum Ende ein innerer Monolog eines Reisenden, der sich nicht traut den Taxifahrer um die Rückgabe des Kleingeldes zu ersuchen. Während der ganzen Fahrt wählt er im Geiste die geeigneten Worte, mit denen er den Lenker anreden sollte, doch sofort kommen in seiner Phantasie Bilder peinlicher Szenen auf, zu denen es kommen könnte, sollte es der Lenker leugnen ihm etwas schuldig zu sein. Schrittweise entpuppt sich hier ein gespaltener, unentschlossener Mensch, den Zweifel über sich und über andere aufzehren, der in jedem nur schlechte Züge findet und letzten Endes noch auch von einem Schamgefühl über sein unberechtigtes Misstrauen dem Menschen gegenüber verfolgt wird.

Im Schaffen Orhan Kemals stossen wir oft auf eine Erzählung, die fast ausschliesslich auf Dialogen begründet ist. Erzählungen wie Teber Qelik'in Kansi (Teber Qeliks Frau), Köpek Yavrusu (Der junge Hund) aus der ersten Sammlung des Autors Der Kampf ums Brot, oder Sahut'la Kansi (Sahut und seine Frau), Dilenci (Der Bettler) aus der Sammlung Qamasvmnm K%zi {Die Tochter der Wäscherin, 1952), um nur zufällig einige Titel herauszugreifen, machen den Eindruck einer Szene, die der Autor als Zuschauer betrachtet. Der Erzähler hält lediglich fest, was er als objektiver Beobachter sieht und hört.

Die Tendenz Orhan Kemals, das Schwergewicht des Erzählens auf eine Gestalt zu übertragen, in deren Bewusstsein einzudringen und das Geschehen umher mit deren Augen zu sehen, trat in seiner letzten Sammlung auch in solchen Erzählungen auf, deren kompositioneile Grundlage ein Dialog bildet. Während sie ein Gespräch führen, enthüllen die Gestalten ihr Inneres, der Autor jedoch kann der Verlockung nicht widerstehen um in die Gedanken wenigstens einer der am Dialog beteiligten Gestalten einzudringen. Wir können dies in den Erzählungen Uzman (Der Spezialist), Sevmiyordu (Er liebte nicht), Bir QocuJc (Ein Kind) beobachten.

In der Exposition der Erzählung Der Spezialist wechselt die Anrede des Erzählers mit dem inneren Monolog der Hauptgestalt — des Reisenden. Der Autor ruft eine Atmosphäre der Langeweile hervor, die ein einsamer Reisender im Zug erlebt und der er sich zu entziehen bemüht ist, indem er ein Gespräch mit einem kleinen Jungen und dessen hübscher Mutter anknüpft. Trotzdem, dass wir durch den Erzähler in das Bewusstsein des Reisenden eindringen und ihn so auch von innen her betrachten können, erfahren wir über ihn wesentlich weniger, als über die Reisende, die sich lediglich im Dialog enthüllt. Manche Charakterzüge der Gestalt des Mannes können wir einzig dessen Benehmen entnehmen. Von einem gewissen Mass Grausamkeit dieser Gestalt zeugt die Art, wie er aus Langeweile Fliegen foltert, von seiner zügellosen Phantasie wieder zeugt die Schlagfertigkeit, mit der er sich vor der Mitreisenden als Spezialist ausgibt und seine Vorstellungen bis in die Einzelheiten ausführt. Die zweite Gestalt, die Mutter des Jungen, enthüllt im Gespräch ihre ganze Natur; allem Anschein nach ist die Frau dumm, beschränkt, verwöhnt, mit einer Neigung zufällige Bekanntschaften anzuknüpfen und diese auch fortzusetzen.

Die Erzählung Das Feigenkörnchen wurde auf dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Motiv der Sehnsucht nach Bildung bereits erwähnt. Frei knüpft diese Erzählung an die Erzählung Sahut und seine Frau aus der Sammlung Die Tochter der Wäscherin an.[xx] Durch einen Vergleich des kompositioneilen Aufbaus dieser beiden Erzählungen können wir des Autors Zielrichtung zu einer tieferen Beschreibung der inneren Charakteristik der Gestalten am besten dokumentieren.

Die zwei einleitenden Sätze beider Erzählungen sind einander beinahe wortwörtlich gleich. Durch sie tritt eine der handelnden Personen — ein Eisverkäufer, der Vater eines hoffnungsvollen Sohnes — in die Handlung. In der Erzählung Sahut und seine Frau folgt das Gespräch des Eisverkäufers mit dessen Frau. Das Ehepaar stellt sich ihre Zukunft als Eltern eines Arztes vor. Dadurch ist die ganze Handlung erschöpft. Aus dem Dialog geht hervor, dass es sich um einfache Leute ohne höhere Lebensansprüche handelt. Ihr einziger Ehrgeiz ist es, ihrem Sohn die Bildung zu ermöglichen.

Die Erzählung Das Feigenkörnchen besteht aus 2 Teilen. Im ersten Teil werden wir nach den erwähnten einleitenden Sätzen in die Zeit zurückversetzt, da der Vater in den Randvierteln der Stadt noch Eis verkaufte. Plastisch wird die Szene des von Kindern umgebenen Eisverkäufers wiedergegeben, wir hören seine Stimme, sowie die der eisgierigen Kinder, gemeinsam mit dem Eisverkäufer verfolgen wir ihre Gedanken. Nach den Worten „Diese Jahre sind nun längst vorbei" durch die der Mann die Erinnerungen an die Vergangenheit sozusagen verscheucht, kehren wir zurück in die Zeit, in der er und seine Frau, durch die jahrelange anstrengende Arbeit gealtert und gekrümmt, nur noch den Vorstellungen über die Zukunft ihres Sohnes leben. Der zweite Teil der Erzählung ist eine freie Abwandlung von Þahut und seine Frau, hier jedoch wird der Dialog durch das Eindringen des Autors in die Gedanken der Frauengestalt unterbrochen.

Die Schlussfolgerung, die wir aus der Erzählung Das Feigenkörnchen über deren Gestalten ziehen können, ist im Grunde genommen dieselbe, wie im Falle der Erzählung Sahut und seine Frau. Was in der älteren Erzählung höchst sparsam ausgedrückt worden war, wird hier in einer komplizierten Form wiedergegeben. Durch die Spaltung der Handlung, durch ihre mehrfache Verschiebung auf der Zeitachse, zerstreut der Autor des Lesers Aufmerksamkeit, führt sie vom Verfolgen des Zentralproblems weg. Dies konnten wir bereits in der Erzählung Der Ohrring mit dem blauen Stein beobachten.

In beiden Erzählungen ist ausser dem Eisverkäufer und seiner Frau noch eine dritte Gestalt anwesend, die Gestalt deren Sohnes. Sie tritt in den Erzählungen nicht direkt auf, sie steht sozusagen hinter der Bühne, wobei wir die Informationen über sie aus den Dialogen oder Monologen der Eltern schöpfen.

In die Erzählungen seiner letzten Sammlung führt Orhan Kemal mit Vorliebe freie Motive ein, die eine Eetardierung der Handlung bewirken. Sind diese Motive in einigen Fällen für die Struktur der Erzählung funktionell begründet (z. B. die Erinnerungen Sezay Beys an sein eigenes Verhalten als junger Mensch einem Alteren gegenüber, in dem Moment, wenn sich ein Jüngling auf der Trolleybus-Haltestelle zu ihm unhöflich benimmt), erscheinen sie in anderen Fällen als Selbstzweck und belasten die Komposition der Erzählung (z. B. wenn die Greisin Hediye aus der Erzählung Brot zuerst in den Gedanken in ihre Mädchen jähre zurückkehrt).

So wie in den vorangegangenen Erzählungssammlungen widmet der Autor auch hier keine besondere Aufmerksamkeit der Beschreibung des Milieus, in dem sich seine Gestalten bewegen. Solange das Milieu nicht der Ergänzung der Charakteristik einer Gestalt dient, wird die Szene, auf der sich die Handlung abspielt, nur angedeutet. Die Fuhrmännin aus der Erzählung Der Ohrring mit dem blauen Stein hält ihre Pferde vor „einem Gebäude, das soeben wiederhergestellt wurde", sie betritt „das kleine Handwerkerkaffeehaus gegenüber". Der Dialog der Jungen in der Erzählung Qocuklar (Die Kinder) spielt in irgendeiner, näher nicht bestimmten Strasse. Sezay Bey gerät in einen Streit mit dem jungen Mann auf einer Trolleybus-Haltestelle.

Wo jedoch das Milieu zur Ergänzung der Situation beitragen kann, widmet Orhan Kemal dessen Beschreibung mehr Raum. Einen Menschen, der der Gesellschaft aus dem Wege geht, erinnert das Treiben auf den Strassen von Istanbul an einen Bienenstock:

„Istanbul, wiederum so wie immer, ist wie ein grosser, sehr grosser, riesiger

Bienenstock. Er summt und summt. Die Leute jagen und jagen über die Gehsteige hin und her.. ."[xxi] (Dschony)

Der Weg, den Dschony durch Istanbul gehend zurücklegen muss, ist durch Namen von Strassen und Stadtvierteln gekennzeichnet, wodurch der ortskundige Leser eine Vorstellung von dessen Endlosigkeit gewinnt.

Istanbul bildet den äusseren Rahmen mehrerer Erzählungen der Sammlung Brot zuerst. Das Motiv der Wetterlage in Istanbul in der Erzählung Bir Qocuk (Ein Kind) und Ucüncü (Der Dritte) betont durch mehrfaches Wiederholen, ergänzt einerseits die Beschreibung des Ortes der Handlung und ruft andererseits auch Gefühle und die Gedanken der Gestalten hervor.

Der Ort der Handlung in der Erzählung Der Spezialist wirkt statisch, trotzdem es sich um einen fahrenden Zug handelt. Die Statik des Bildes wird nicht einmal vom Blick durchs Fenster unterbrochen, einem Motiv, der in der Erzählung im ganzen dreimal vorkommt, das wir im Grunde immer dieselbe unveränderte Landschaft vor den Augen haben. Nur einmal wandert unser Blick von entfernten Details zu näheren, ein anderesmal wieder umgekehrt. Die betonte Beweglosigkeit der Umgebung ruft eine Atmosphäre der Langeweile hervor.

„Er schaute in die Ferne. In der Ferne lag das Meer, blau, fast weiss, nebelig, drückend. Die Wolken am Himmel, taschentuchgross, schienen sich nicht von der Stelle zu bewegen."[xxii]

Auch die Art, wie der Autor in der Erzählung Tas (Der Stein) die Bilder an den Wänden einer Weinstube beschreibt, ist unserer Aufmerksamkeit wert. Auf den Bildern, die Szenen vom Leben Atatürks darstellen, sehen wir das, was ihnen der Besucher der Weinstube entnimmt.

„...Und noch weitere Bilder: der Schah Reza Pahlewi und Atatürk. Beide

sitzen sich am Tisch gegenüber und trinken Kaffee.  Beide sind zufrieden. Nur

Reza Schah hielt sich mit seinem riesigen weissen Schnurrbart gewiss für den

Klügeren. Als wäre er nicht beleidigt gewesen, noch wäre er Atatürk böse, dass

dieser seinen Schnurrbart abrasiert hat, bloss, so schien es, sagte er: ,Es wäre

besser, Kemal, wenn du deinen Schnurrbart nicht abrasiert hättest'."[xxiii]

Eine ähnliche Art der Umschreibung benützte Orhan Kemal auch in der Erzählung Tarzan, wo wir die Bilder der Kinderzeitschrift mit den Augen des Jungens sehen.

Abgesehen von einigen Erzählungen, die der Autor nach 1968 in Zeitschriften

veröffentlichte, schliesst die Sammlung Brot zuerst das erzählerische Schaffen Orhan

Kemals ab. Auf Grund der durchgeführten Analyse können wir konstatieren, dass

die Erzählungen  dieser  Sammlung thematisch  und  auch was  die  Komposition

betrifft, an die vorangehenden Werke des Schriftstellers im Bereich dieser Gattung

anknüpfen.

In der thematischen Struktur der Sammlung beobachten wir jedoch im Vergleich mit dem früheren Schaffen des Autors eine bestimmte Abschwächung der Ideenrichtung der Erzählungen, die Kritik der herrschenden Verhältnisse in der gegenwärtigen Türkei klingt bei weitem nicht so angriffslustig, wie dies beim jungen Schriftsteller der Fall war. Die Galerie seiner Gestalten ist in den letzten Erzählungen um den Vertreter der Arbeiterklasse, dessen Prototyp Orhan Kemal als einer der ersten in die türkische Literatur einführte, ärmer.

Auch hier benützt der Autor zum Selbstausdruck der Charaktere in vollem Masse die Dialoge und Monologe, den inneren Monolog besonders betonend, so dass dieser zu einem der grundlegenden Ausdrucksmittel in den Erzählungen der Sammlung Brot zuerst wird.

Die objektive Wirklichkeit, um deren Darstellung es Orhan Kemal in seinem Werk immer ging, fassen wir hier eher durch das subjektive Beobachten der Gestalten auf, was verglichen mit der einfachen Komposition seiner früheren Werke im komplizierteren Aufbau dieser Erzählungen seinen Ausdruck findet.

Dies hängt zweifelsohne mit der Verschiebung der künstlerischen und ideologischen Kriterien in der Türkei der 2. Hälfte der 50-er Jahre, mit dem Entstehen der neuen literarischen Strömung, die unter der Bezeichnung bunalh bekannt ist, wodurch die engagierten Schriftsteller in einen scharfen Widerspruch geraten, und mit der ganzen Weiterentwicklung der türkischen Literatur, zusammen. Nachdem die Eintönigkeit der Themen und Formen seitens der Repräsentanten des bunalti einer scharfen, gewissermassen berechtigten Kritik unterworfen wurde, suchen die Autoren der Generation, zu der auch Orhan Kemal gehörte, nach neuen, wirksameren Ausdrucksweisen der realen Wirklichkeit. In ihrem Streben um jeden Preis modern zu sein, konnten sie einigen schädlichen Einwirkungen westlicher, vornehmlich französischer, subjektiv gerichteter Literatur, die in der Türkei der Nachkriegszeit in grossen Auflagen herausgegeben wurde, nicht ausweichen.

Trotz einiger Mängel und schwächerer Stellen konnten die letzten Erzählungen Orhan Kemals der starken Konkurrenz, die das Schaffen älterer sowie ganz junger türkischer Schriftsteller umfasst, standhalten, und trugen ihrem Autor die Ehrung in Form von höchsten türkischen Literaturpreisen ein, des Sait-Faik-Preises und des Preises der Türkischen Gesellschaft für Sprachwissenschaft für das Jahr 1969.

 


[i] Tahir Alangu: Gumhuriyeüen sonra Hikäye ve Roman (Die Erzählung und der Roman nach der Gründung der Republik). 2. Teil. Istanbul 1965, S. 379.

[ii] Die höchsten türkischen Preise für Literatur. Sie werden den Autoren der besten Erzählungen des Jahres erteilt.

 

[iii] Babajev, A. A.: Ocerki sovremennoj tureckoj literatury (Die Übersicht der zeitgenössischen türkischen Interatur). Moskau, Izd. vost. lit. 1959, S. 174.

[iv] Tahir Alangu: op. cit., S. 380.

[v] Kemal Orhan: Babaevi (Das väterliche Haus). Istanbul, Varhk Yaymlari 1949, S. 124. Die erste Novelle des autobiographischen Zyklus Kügük Adamin Notlan (Notizen des Meinen Mannes). Bei der Bezeichnung des Genres dieses, sowie auch einiger weiterer Werke Orhan Kemals ist •*" die türkische Literaturwissenschaft nicht konsequent. Sie bedient sieh der Bezeichnung „roman" sowie „büyük hikäye" (grosse Erzählung). Von unserem Standpunkt gesehen ist die zweite Bezeichnung angemessener.

[vi] Orhan Kemal: Önce Ekmek (Brot zuerst). Istanbul, Yeditepe Yayinlari 1968, S. 83. ' Ibid., S. 75.

[vii] Ibid., S.75

[viii] Göksen, B. N.: Türk Romaninda Qocuk (Das Kind im türkischen Roman). Türk Dili (Die türkische Sprache), 1957, Nr. 69, S. 486-488.

[ix] Mutluay, R.: Orhan KemaVm Hikäyelerinde Qocuk (Das Kind in den Erzählungen von Orhan Kemal). Yeni Edebiyat (Neue Literatur), 1970, Nr. 9, S. 11 — 14.

[x] In neunundvierzig Erzählungen von einhundert neunundsechzig, die R. Mutluay betrachtet,. .sind die Hauptdarsteller Kinder.

[xi]  Önce Ekmek, S. 41.

[xii] Ibid., S. 42.

[xiii] Ibid., S. 46.

[xiv] "Auerbach, E.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern, A. Prancke AG Verlag 1946, S. 488.

[xv] Über diese Erzählungsweise siehe Findra, J.: Rozprdvaö a sujet. Problemy sujetu (Der Erzähler und das Sujet. Die Probleme des Sujets). Litteraria XII, Bratislava, SAV 1969, S. 169 bis 204.

[xvi] Babajev, A. A.: S. 175; Uturgauri, S.: Pravda bez prikras (Die Wahrheit ohne Verschönerung). Nachwort zur Übersetzung der Auswahl aus den Erzählungen von Orhan Kemal: Mstitelnaja volsebnica (Die rachsüchtige Zaubererin). Moskau, Nauka 1967, S. 109.

S. Uturgauri ist die Verfasserin der Monographie Tvorcestvo Orchana Kemalja—novelista (Das Schafjen des Novellisten Orhan Kemal). Moskau, Nauka 1963. Dieses Werk ist uns derzeit nicht zugänglich, wir können uns daher darauf nicht beziehen.

[xvii] Önce Ehmeh, S. 61. 18

[xviii] Ibid., S. 34.

[xix] Ibid., S. 90.

[xx] Orhan Kemal: Çamaþýrcýnýn Kýzý (Die Tochter der Wäscherin). Istanbul, Yeditepe Yayýnlarý 1964, S. 26-28.

[xxi] Önce Ekmek, S. 37-38.

[xxii] Ibid., S. 109.

[xxiii] Ibid., S. 94.

 

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