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Bis auf wenige Ausnahmen ist türkische Literatur in Deutschland nahezu
unbekannt. Ob dies an der Funktion von Literatur in der Türkei liegt
oder an den verarbeiteten Stoffen, untersuchen Uli Rothfuss und Achim
Martin Wensien. Trotz unbeschränkt vorhandener Möglichkeiten und
Freiheiten, fremde Literaturen unter Lesern bekannt zu machen, ist ein
Produktions- und Rezeptionsmangel der türkischen Literatur im
deutschsprachigen (und nicht nur in diesem westlichen) Raum
festzustellen.
Gegenbeispiel: Orhan Kemal
Nun könnte man sagen: Jedem Publikum seine Autoren! In der Türkei
konnten im Bereich der Literatur und der Künste insgesamt keine
bahnbrechenden Werke entstehen, die Weltgeltung erlangen konnten. Hinter
denen, die bekannt wurden, standen massive politische und ideologische
Interessen, in den seltensten Fällen die Leserschaft.
Ein seltenes Gegenbeispiel ist der Autor Orhan Kemal, dessen Werk
"Cemile" - erstmals veröffentlicht 1952 - in der Türkei im Oktober 2004
mit 110.000 Exemplaren neu aufgelegt und - laut Auskunft des Sohnes -
innerhalb eines Monats gänzlich verkauft wurde.
Orhan Kemal hatte während seines Lebens (1914-1970) Armut ertragen, dazu
noch Verleumdungen und Kritik aus der Autorenzunft, und setzte dem
entgegen: "Kritisiert und schimpft mich aus, ich habe meine Leser".
Orhan Kemal, nicht zu verwechseln mit dem Bestsellerautor Yasar Kemal,
ist der Prototyp eines professionellen Autors, der die zwei
vordergründig wesentlichen Funktionen eines türkischen Literaten nicht
erfüllte, identitätsstiftend zu sein und als politische Waffe zu dienen.
Warum wird der hierzulande nicht gelesen? Die saloppe Antwort: Er ist
kaum übersetzt, wenn man von einem Randereignis im Jahr 1979 absieht,
als sein Werk "Murtaza oder Das Pflichtbewusstsein des kleinen Mannes"
einmal in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde.
Aber warum wird dieser Autor nicht weiter übersetzt? Wahrscheinlich weil
er dem typischen Literatur-Mainstream der Türkei nicht entsprach und
nicht entspricht, wenn auch manchmal die Leser ein Buch anders
rezipieren als es vom Literaturbetrieb beabsichtigt oder erwartet wird.
Auch das gehört zu den Unwägbarkeiten des Literaturmarktes. |
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