Orhan Kemal: Ein Haus von Vielen





Im Jahre 1966 erschien der Roman “Ein Haus von Vielen“ zum ersten Mal. Bis heute ist es in zwölf Ausgaben erschienen. Das zeigt, dass Orhan Kemal immer noch beliebt und lebendig ist und noch gern gelesen wird. Er hat immer noch einen treuen Leserkreis, obwohl für gewöhnlich das Gegenteil behauptet wird. Es wird gesagt: “Diese Leute wollen nicht lesen!” Genau Orhan Kemals Leute, für die er mühsam, geduldig und mit Fleiß geschriebenen Werke schrieb, machen ihn wichtig und unvergeßlich. Deshalb bewundern wir uns, wenn wir immer wieder von ihm etwas lesen. Weil wir in fast jedem Werk einen Teil von uns finden. Wir finden Brüche und große Stücke, die wir nicht so einfach ignorieren und übersehen können.

“Ein Haus von Vielen” kann auch andersartig übersetzt werden. Zum Beispiel “Eine Familie als andere” oder “Eine Familie von Vielen”. Der Autor erzählt uns eine Familiengeschichte bzw. zwei. Sadi Bey, seine Frau Hediye Haným, die beiden Söhne Ýskender und Erdal und die Tochter Ayþe leben in einem Haus zusammen. Die Nachbarinnen Leman Haným und ihre Tochter Nursen leben auch zusammen gleich neben an.

Sadi Bey ist von der staatlichen Bahngesellschaft und ist nach so vielen Jahren Arbeit in die Rente gegangen. Der Vaterstaat gab ihm das jetzige Haus, worin sie zur Zeit leben, als Dankeschön für seine geleisteten Taten. Ýskender und Erdal träumen unabhängig von einander davon, dass das Haus verkauft werden soll. Mit dem Geld wollen sie ihre Zukunftspläne verwirklichen. Erdal will mit dem Geld sein Jurastudium im Ausland weiterführen und Ýskender plant mit dem Erlös sich selbständig zu machen. Er träumt sogar davon, seinen kleinen Bruder, auf ihn er sehr neidisch ist, bei ihm arbeiten zu lassen. Die Frauen des Hauses und die Tochter von Ayþe sehen das Haus als eine Absicherung. Daher sind beide, genau wie der Vater Sadi, gegen den Verkauf.

Wir begegnen einer durchschnittlichen Familie in damaligen Verhältnissen in Ýstanbul. Sadi Bey traf sich öfters im türkischen Kaffeehaus mit seinem gleichaltrigen Freund und Nachbarn Müçteba Efendi. Seit dem haben sich diese Kafeehäuser oder Teestuben nicht geändert. Ähnlichen Sorten von Treffpunkten begegnen wir sogar im heutigen Deutschland überall (Obwohl sie sich in letzter Zeit in Wetthäuser umgewandelt haben). Die Männer amüsieren sich, aber ohne Frauen. Was macht und sagt man in solchen Gelegenheiten? Sadi und Müçteba reden leidenschaftlich aber auch ziemlich unanständig mit gewisse Grenzen über ihre realen Träumen. Das sind junge hübsche Mädels aus der Nachbarschaft.

Sadi liebt Nursen, er schreibt für sie sogar Liebesbriefe. Er traut sich aber nicht, ihr diese Briefe zu geben. Müçteba liebt Ayla. Durch das Petzen von Ayla, erfuhr seine Ehefrau davon und macht ihm das Leben Hölle. Er wird später Spottobjekt der schaulustigen Nachbarschaft. Die anderen Familienmitglieder haben wie der Vater auch ihre Träume: Mutter Hediye erwartet mehr Aufmerksamkeit, Dankbarkeit, Respekt und auch Liebe von ihrer Familienmitgliedern, ein kleines Dankeschön, einen warmen Blickkontakt, eine Umarmung und ein wenig Zärtlichkeit bei nötigen Fällen. Ayþe ist regelrecht hässlich, trotzdem besitzt sie eine Topfigur. Sie fährt gerne zur Arbeit mit dem Bus, besonders in extrem voll mit Fahrgästen beladenen Bussen, wo sie von irgend welchen Männern begrabscht, angemacht, körperlich in die Enge getrieben oder kontaktiert wird.

Ýskender liebt die Nachbarnstochter Nursen, ohne zu wissen, dass sein alter Vater über das gleiche Mädel träumt. Erdal wird durch die Hilfe einem Freund aus seiner Uni mit der Nachbarin Leman Haným ausgehen. Heimlich treffen sie sich unterwegs und beginnen mit einer Affäre. Durch die Nachbarin und die geliebte Leman Haným findet Erdal einen Nebenjob, wo er viel Geld verdient und bald die Tochter seines Arbeitsgebers kennenlernt. Später plant er sie zu heiraten.

“Ein Haus von Vielen” oder “diese Familien von vielen” zeigt uns wie das Leben uns steuert, mitführt, erzieht und über uns eine große Macht ausübt. Die alltäglichen Geschehnisse mit ihren eigenen Laufbahnen geben uns ein Gesicht und meißeln uns wie ein Bildhauer oder Künstler um aus uns einen durchschnittlichen Bürger zu machen. Die nicht vorhandene Liebe, die fleischliche Lust, das Geld, die wirtschaftliche Sicherheit, unsere eigene Triebe, die charakteristischen Eigenschaften, der Wille, die Hoffnungen und die Träume beeinflussen uns mächtig und machen uns zu dem, was wir sind.

Orhan Kemal der einer produktivsten und fleißigsten Autoren aus der jungen Vergangenheit war, zeigt auch mit diesem Werk ohne es zu vestecken, was für Menschen wir eigentlich sind, wie wir leben und wovon wir am meisten träumen. Der sozialkritischer bzw. gesellschaftsreale Autor, so wurde seine Richtung genannt, wird sicherlich von heutigen Grünen gerne verfolgt, dennoch wiederspiegelt er auch in diesem Roman, unter welchen Umständen das Leben damals dort stattfand.

Heute lesen wir von diesen kleinen Menschen, die er gerne in seinen Geschichten und Romanen (das sind, habe ich gezählt, 53 Werke) als Helden behandelte. Sie danken Orhan Kemal mit ihrer Loyalität. Sie lesen von ihm alles was ihnen über den Weg läuft, was verkauft wird. Ob Orhan Kemal dieses wußte und berechnete?

www.criticus.eu
Fotos: www.tulumba.com

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