Orhan Kemal – Die 72. Zelle (http://www.videoactivism.de)
 



Buchbesprechung von Susanne Roden

Wenn die politischen Gefangenen eine lange Tradition in der Türkei haben, dann müssen es die Gefängnisse auch haben. Das Sultan-Ahmed-Gefängnis (türk. Sultanahmet Cezaevi), im ehemaligen Istanbuler Stadtbezirk Eminönü in der ältesten Siedlung von Byzantion (im 7. Jahrhundert v. u. Z. gegründet) gelegen, wurde im Januar 1969 geschlossen. Gelegen im historischen Zentrum der Stadt, nahe der ehemaligen Kathedrale Hagia Sophia, dem ehemaligen Sul­tanspalast und vielen bedeutenden Moscheen sowie der ältes­ten Stadtmauer, ist das Sultan-Ahmed-Gefängnis auch ein historisches Baudenkmal.
Das Gefängnis wurde im türkisch-neoklassizistischen Stil erbaut und über dem Haupteingang steht „Strafanstalt für Verbrechen Istanbul 1337“ in arabischer Schrift. Es entstand im Rahmen der Bestimmung über die „interne Verwaltung von Besserungs- und Haftanstalten aus dem Jahr 1880“, und auch Frauen und Jugendliche wurden dort inhaftiert. Das Gebäude war zunehmend dem Verfall preisgegeben, bis 1992 ein Entschluss gefasst wurde, das Gefängnis zukünftig als Hotel zu nutzen.

Es finden sich zahlreiche Hinweise auf berühmte Insassen, wie Schriftsteller, Künstler und Journalisten, die sicherlich auch in dem Four Seasons Hotel mit nunmehr 65 Zimmern und Suiten ihre Erwähnung finden. Das Gefängnis hatte eine Kapazität von ca. 1 000 Insassen und so möge sich jeder zukünftige Gast einmal vor seinem geistigen Auge die Personenzahl vorstellen, die einmal in seiner „Zelle“ Aufnahme fand.

Welches Zimmer in dem Hotel nun auch die ehemalige „Zelle 72“ (72. Koðuþ) sein mag, der Titel des in deutscher Sprache vorliegenden Buches von Orhan Kemal beschreibt wahrlich keinen Hotelaufenthalt, sondern den Haftalltag. Er selbst war vom 7. März bis zum 13. April 1966 Insasse im Sultan-Ahmed-Gefängnis. Nâzým Hikmet war 1938/39 sowie kurze Zeit in 1950 ebenfalls dort inhaftiert sowie auch Kemal Tahir, ein enger Freund und Weggefährte von Nâzým.
Kemal Tahir entstammte einer wohlhabenden Istanbuler Familie, hatte das Galatasaray Lisesi besucht und war bereits Anfang der 30er mit Nâzým bekannt. Beide gehörten den linken Diskussionskreisen um das Ehepaar Sertel an. Nâzým Hikmet und Kemal Tahir waren seit 1938 gemeinsam in Istanbul und Çankýrý in Anatolien im Gefängnis.
Orhan Kemal, geboren am 15. September 1914 als Mehmet Raþit Öðütçü, lernte Nâzým Hikmet, der sich aus gesundheitlichen Gründen von Çankýrý nach Bursa hatte verlegen lassen, dort im Gefängnis kennen und verbrachte seine Zeit mit ihm gemeinsam von Dezember 1940 bis zu seiner Entlassung im September 1943.

Das türkische Gefängnis der vierziger Jahre erscheint wie ein Mikrokosmos der türkischen Gesellschaft, wenn man den Ausführungen der ausgewerteten literarischen Zeugnisse im Sonderdruck zur Entstehung des türkischen Realismus der Kunst- und Islamwissenschaftlerin Erika Glassen folgt.
Politische Gefangene, darunter viele Intellektuelle aus Istanbul, wurden in anatolische Provinzgefängnisse verbannt. Dort stießen sie dann auf die Bevölkerungsstruktur der Umgebung.
Gerade für den überzeugten Kommunisten Nâzým Hikmet entstand durch diese Situation nun endlich die Möglichkeit, der anatolischen Bevölkerung näherzukommen.
Das türkische Gefängnis wurde dadurch zu einer Werkstatt für die Ausbildung einer realistischen türkischen Literatur. Unfassbar, aber die Freunde Kemal Tahir (1910–1973), Orhan Kemal (1914–1970) und Nâzým Hikmet (1902–1963) haben sich gegenseitig in dieser für uns furchtbaren Lage befruchtet.

Für die kommunistischen Intellektuellen um Nâzým gab es kein Volk (halk), sondern nur die werktätige Klasse (emekçi sýnýfýn) und für die Gesinnungsgenossen herrschte offenbar die Vorstellung vor, dass die Voraussetzung dafür, ein guter Sozialist zu sein, nur gegeben war, wenn man in ein Gefängnis kam.
Und dafür reichte in den dreißiger Jahren zu Zeiten der Kommunistenverfolgung schon ein geringer Anlass, wie im Fall von Orhan Kemal, der in seinen Texten den Namen Nâzým Hikmet, welcher mit seinen Schriften die unterdrück­ten Schichten aufrühren wollte, erwähnte und in der Bibliothek nach Werken von ihm fragte. Orhan Kemal wurde während seiner Militärzeit vom Armeegericht in Kayseri wegen „Propaganda eines ausländischen Regimes“ zu fünf Jahren Gefängnis in Bursa verurteilt.
Orhan Kemal war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung noch keine intellektuelle Persönlichkeit, er hatte weder eine gute Schulbildung genießen können, noch war er ein ebenbürtiger Gesprächspartner für Nâzým wie Kemal Tahir. Aber er war ein großer Bewunderer von Nâzým, war sehr lesehungrig und schrieb Gedichte und so zögerte Nâzým auch nicht, seinen jungen Bewunderer unter seine Fittiche zu nehmen und ihn zu fördern. Es galt, die Isolierung fernab vom tagespolitischen Alltag und die Möglichkeit zur Konzentration zu nutzen, und so wurde ein Tagesprogramm inklusive Unterricht in Französisch für Orhan Kemal aufgestellt.
Orhan trägt seine Gedichte vor und wird wegen ihrer poetischen Pose von Nâzým stark kritisiert, da das ein Zeichen für schlechte Dichtung sei, aber schwer, sich davon zu befreien. Es soll von der gängigen Vorstellung, dass Dichterwort Lüge sei, darauf hingearbeitet werden, dass Dichterwort Wahrheit bedeutet. Die Grundeigenschaft eines Volkskünstlers muss Aufrichtigkeit sein, aber kindliche einfache Aufrichtigkeit ist eben noch keine Kunst, dazu bedarf es Meisterschaft.

Man setzte sich mit der neu eingeführten türkischen Volkssprache gründlich auseinander, hörte den Insassen bei ihren Ausführungen oft in groben Worten und den unterschiedlichen Bedeutungen einzelner Ausdrücke intensiv zu, diskutierte und analysierte, um authentische Romanentwürfe verfassen zu können. Und so ist in dem vorliegenden Buch auch jedem Insassen die Möglichkeit eingeräumt worden, für sich selbst zu sprechen. Die Dialoge wechseln in den einzelnen Szenen und erinnern an die Rollen für Drehbücher. Es gibt Rück­blicke auf die Vergangenheit, das Leben vor der Inhaftierung, jeder bringt eine andere Vorgeschichte mit, jeder hat seine Geheimnisse, und wie auch im Leben draußen existieren Hierarchien, werden Hackordnungen neu ausgemacht.
Nâzým sorgte auch dafür, dass Orhan Kemal mit Kemal Tahir brieflich in Kontakt trat, um sich auszutauschen. Dieser Dreierkontakt war einmalig mit der Gefängnissituation verbunden und wäre vermutlich ansonsten nie zu Stande gekommen.
Es werden durch das Gefängnispersonal und auch Besucher Fäden nach draußen geknüpft und so beschreibt auch Orhan Kemal in seinem Buch, wie man für eine Suppe einkaufen kann und sich den Gefängnisalltag organisiert. Man pflegt die Kontakte zum Gefängnispersonal bis hin zum Direktor, die Intellektuellen werden zu Mittlern zwischen den Mithäftlingen, erleben aber hautnah die Berührung mit den Leidensgenossen.

Orhan Kemal wurde als Sohn von Abdülkadir Kemali Bey, Minister und Mitglied des ersten Parlaments der türkischen Republik in Kastamonu, und seiner Mutter Azime Haným am 15. September 1914 in Ceyhan/Adana geboren.
Sein Vater war Anwalt und Mitgründer der „Ahali-Partei“. Nach Auflösung der Partei aus politischen Gründen war er gezwungen, nach Syrien zu fliehen. An seiner Seite Orhan Kemal. Er blieb ein Jahr in Syrien und kehrte 1932 nach Adana zurück. Er arbeitete als Arbeiter, Weber und in der Baumwollspinnerei, und somit nimmt in seinen Schriften der Kampf um das tägliche Brot eine spürbar zentrale Rolle ein, spiegelt sie doch einen großen Teil seines eigenen Lebens wider.
Die fünfjährige Strafe während seines Militärdienstes und folgende Inhaftierung stellten einen Wendepunkt in seinem Leben und für seine schriftstellerische Arbeit dar. Das Zusammentreffen mit Nâzým Hikmet kann man als Glücksumstand der Geschichte sehen.
Nach der Haftentlassung 1943 ging er 1950 nach Istanbul und begann wieder als Arbeiter, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Er arbeitete als Gemüselieferant und als Angestellter einer Tuberkulosestiftung, ab 1951 war er ausschließlich als Schriftsteller tätig.

Das erste Gedicht wurde in Yedigün unter dem Namen „Raþit Kemal“ (Duvarlar, 25.04.1939) veröffentlicht, weitere 1940 unter dem gleichen Pseudonym in Yedigün und Yeni Mecmua. Nachdem er im Gefängnis durch Nazým gefördert worden war und dieser für ihn Kontakte zur Veröffentlichung herstellt hatte, folgten die nächsten Texte unter dem Pseudonym „Orhan Raþit“ (Yeni Edebiyat 1941). Orhan Kemal begann sich mehr auf das Schreiben von Prosa zu konzentrieren. Seine erste Veröffentlichung „Bir Yýlbaþý Macerasý“ wurde im Jahr 1941 publiziert. Ab dem Jahr 1942 nutzte er den Namen Orhan Kemal.
1949 kam die erste Sammlung von Kurzgeschichten unter dem Namen „Ekmek Kavgasý“ heraus und im selben Jahr auch sein erster Roman „Baba Evi“.

Seine frühen Arbeiten beschreiben die sozialen Strukturen und binden seine Erlebnisse als Flüchtling aus Adana mit ein, die Beziehungen von Angestellten und Arbeitern, den täglichen Kampf der armen Leute in der sich industrialisierenden Türkei. Sein Ziel war es, einen optimistischen Blick durch die Helden seiner Geschichten zu präsentieren. Ihm lag daran, das Leben der einfachen arbeitenden Menschen darzustellen, wie sie ihre Würde erhalten unter den Bedingungen der Armut und Entbehrungen. Er hat nie seinen einfachen Ausführungsstil verändert und wurde dennoch einer der kunstvollsten Autoren von Erzählungen und Novellen in der Türkei.
Es gab zu einigen Werken wie „72. Koðuþ“, „Murtaza“, „Eskici Dükkaný“, „Kardeþ Payý“ Bühnenbearbeitungen und auch Verfilmungen. Er selbst schrieb später auch Drehbücher und ein Theaterstück namens „Ýspinozlar“.
Für sein Werk „Kardeþ Payý“ erhielt er 1957 und für „Önce Ekmak“ 1969 jeweils den Sait-Faik-Literaturpreis.
Orhan Kemal starb am 2. Juni 1970 im bulgarischen Sofia und wurde in der Türkei auf dem Zincirlikuyu-Friedhof in Istanbul begraben.
In der Wohnung in der 30 Akarsu Caddesi im Stadtteil Cihangir in Istanbul hat sein Sohn Iþýk Öðütçü ein Museum zum Andenken an seinen Vater eingerichtet.

Die Bilder aus der Erzählung „72. Zelle“ wirken mit einer Eindringlichkeit auf den Leser, die ihresgleichen sucht. Sie sind das literarische Ergebnis der Zeit von 1939 bis 1943 und ich wünsche mir eine große Leserschaft für dieses eindrucksvolle nun in deutscher Sprache vorliegende Buch.

Orhan Kemal: Die 72. Zelle
Aus dem Türkischen übersetzt von Achim Martin Wensien und überarbeitet von Uli Rothfuss
Pop Verlag 2010;
ISBN 978-3-937139-54-8; Paperback ca. 154 S.;
15,50 Euro (D, A), 20,00 CHF UVP

info@orhankemal.org